Was ist der Big Five-Test?
Es hat sich in der Persönlichkeitspsychologie die Unterscheidung von fünf großen Persönlichkeitseigenschaften, die sogenannte Big-Five-Systematik, etabliert, die in den von Costa und McCrae entwickelten Persönlichkeitstests NEO-Fünf-Faktoren-Inventar (NEO-FFI) bzw. NEO-Persönlichkeits-Inventar (NEO-PI-R) operationalisiert wurden (Winkler et al., 2017, S. 56).
Persönlichkeitseigenschaften können individuelle Erlebens- und Verhaltenstendenzen über verschiedene Situationen hinweg zusammenfassen, zukünftiges Erleben und Verhalten vorhersagen und interindividuelle Unterschiede in diesen Bereichen erklären. Jeder Mensch ist aufgrund seiner Eigenschaften einzigartig und nimmt die Realität auf seine ganz persönliche Art und Weise wahr. Diese Wahrnehmung und Interpretation der Umwelt bestimmt das Denken und Handeln des Individuums (Rammsayer, 2005, S. 61).
Die Faktoren und Facetten des Big-Five-Modells
Jeder der fünf Faktoren hat sechs Facetten, die nachfolgend dargestellt sind.
Abb. 1: Big Five-Persönlichkeitsdimensionen und Facetten
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an (Ostendorf & Angleitner, 2004, S. 39ff)
In der Regel werden sich die Facettenwerte bei der Messung in ähnlichen Bereichen wie den Faktorwerten befinden. Es kann aber auch Abweisungen geben. Sollte dies der Fall sein, so sollte man sich mehr auf die Facetten- als die Faktorwerte zu konzentrieren.
Neurotizismus beschreibt Unterschiede zwischen emotionaler Stabilität und Empfindsamkeit. Personen mit hoher emotionaler Labilität (Neurotizismus) sind empfindlich und ängstlich. Sie geraten leicht aus dem emotionalen Gleichgewicht, sind insgesamt reizbarer und weniger selbstkontrolliert und neigen daher zu unangemessenen Formen der Problembewältigung. Außerdem sind sie anfällig für Vorwürfe gegen ihre Person und haben Schwierigkeiten, in Stresssituationen angemessen zu reagieren. Emotional Sensitive erleben Emotionen stärker und deutlicher als andere (Schirmer & Woydt, 2023, S. 65). Emotional stabile Menschen, bei denen die Neurotizismuswerte niedrig sind, haben diese Probleme kaum. Sie beschreiben sich selbst als ruhig, ausgeglichen, sorgenfrei und geraten auch in Stresssituationen nicht so schnell aus der Fassung. Ein Prototyp einer emotional stabilen Person lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen (Borkenau & Ostendof, 2008, S. 40).
Extraversion beschreibt die Art des zwischenmenschlichen Verhaltens. Extravertierte Menschen sind gesellig, freundlich, unternehmungslustig, heiter und aktiv. Sie fühlen sich wohl, wenn sie mit anderen zusammen sind. Außerdem sind sie optimistisch, durchsetzungsfähig, selbstbewusst und dominant. Extraversion bezeichnet grundsätzlich die Intensität der Zuwendung nach außen. Introvertierte Menschen sind dagegen im zwischenmenschlichen Bereich zurückhaltender, schüchterner und können sich gut selbst beschäftigen, da sie unabhängig von anderen sind (Schirmer & Woydt, 2023, S. 66).
Offenheit für Erfahrungen beschreibt, wie offen jemand für neue Ideen, Anregungen, Erfahrungen und Sichtweisen ist. Offene Menschen sind phantasievoll, kreativ und neugierig. Sie nehmen ihre Gefühlswelt klar wahr und sind eher bereit, bestehende Normen kritisch zu hinterfragen. In ihren Wertorientierungen sind sie meist unkonventionell (Schirmer & Woydt, 2023, S. 66). Personen mit niedrigen Werten neigen eher zu konventionellen Verhaltensweisen und konservativen Einstellungen und ziehen das Bekannte und Bewährte dem Neuen vor (Borkenau & Ostendof, 2008, S. 40).
Verträglichkeit bezeichnet die Eigenschaft, anderen Menschen kooperativ, hilfsbereit und freundlich zu begegnen, Konflikte zu vermeiden und sich anzupassen. Verträgliche Menschen neigen dazu, in Konflikten nachzugeben und können auf andere als wenig konsequent oder durchsetzungsfähig wirken. Der nachgiebig-angepasste Mensch neigt auch dazu, in altruistischer Weise seine persönlichen Bedürfnisse denen des Gegenübers oder der Gruppe unterzuordnen. Menschen mit einer niedrigen Ausprägung von Verträglichkeit neigen dazu, egozentrisch und misstrauisch gegenüber anderen zu sein. Sie sind unfreundlich, unhöflich, wenig einfühlsam und eher konkurrierend als kooperativ. Die "Unverträglichen" beharren auf ihrem Standpunkt und neigen dazu, grundsätzlich "dagegen zu sein" (Schirmer & Woydt, 2023, S. 66).
Gewissenhaftigkeit bezieht sich auf das Ausmaß, in dem sich jemand seinen Aufgaben und Zielen verpflichtet fühlt. Solche Personen sind zielstrebig, willensstark, organisiert, genau, gründlich, ausdauernd und ordentlich. Prinzipientreue, Leistungsbereitschaft und Pflichtbewusstsein kennzeichnen dieses Merkmal. Personen mit geringer Gewissenhaftigkeit sind dagegen unorganisiert, sorglos, oberflächlich, wankelmütig und weniger verantwortungsbewusst. Sie lassen sich leichter ablenken, sind reizoffen und weniger konzentriert (Schirmer & Woydt, 2023, S. 66).
Beispiele für eine Gruppenzuordnung von Personen: Resiliente Menschen sind in der Regel emotional stabil und gewissenhaft. Überkontrollierte Personen neigen eher dazu, neurotisch und introvertiert zu sein, während unterkontrollierte Personen weniger gewissenhaft sind und eher dazu neigen, impulsiv zu sein (Rauthmann, 2016, S. 21).
Warum setze ich den Big-Five-Test zu Beginn eines Coachings ein?
Der Einsatz des Big-Five-Tests als psychometrischer Verfahren hat sowohl Vorteile für den Coach als auch für den Coachee.
Vorteile für den Coach
· Er hat die Möglichkeit, einen wichtigen Abgleich mit seiner ganz individuellen Sicht auf die Persönlichkeit des Coachees vorzunehmen, die von seiner eigenen Persönlichkeit, seinen persönlichen Einstellungen, Werten und Erfahrungen geprägt ist. Dies kann hilfreiche Fragen und notwendige Reflexionen auslösen.
· Der Einsatz psychometrischer Verfahren kann aber auch gut zur Strukturierung des Coachingprozesses genutzt werden, da aus den Ergebnissen die Bearbeitung spezifischer Themen oder auch die Durchführung bestimmter Aktivitäten abgeleitet und begründet werden können.
· Nach einer Eingangsdiagnostik zur Statuserhebung kann eine Reihe von psychometrischen Verfahren (je nach Instrument) auch gut zur weiteren Verlaufs- bzw. Abschlussmessung eingesetzt werden. Diese Verfahren eignen sich auch gut für weitere Verlaufsmessungen außerhalb der Dialogischen Folgegespräche, z. B. nach 6 oder 12 Monaten.
Die genannten Einsatzmöglichkeiten können somit einzeln oder in Kombination zu einer deutlichen Strukturierung, einer kritischen Selbstreflexion, der Offenlegung unbeachteter Aspekte oder der Verstärkung anderweitig gewonnener Einschätzungen der Persönlichkeit des Coachees und damit zu einer Qualitätsverbesserung der oft offenen Coaching-Prozesse führen (Möller et al., 2013, S. 85).
Nutzen für den Coachee
· Die Selbstaufmerksamkeit für die eigene Person wird in der Regel erhöht und kann damit eine größere Offenheit für einen konstruktiven Abgleich von Selbstbild und Fremdbild bewirken. Die Ergebnisse fordern aufgrund ihrer numerischen und nicht nur subjektiven Ausprägung zu einer klärenden Stellungnahme auf, die im Gespräch über Zustimmung oder Widerspruch gut bearbeitet werden kann. Durch den Vergleich mit den Werten einer geeigneten Vergleichsgruppe kann der Coachee gemeinsam mit dem Coach seine persönlichen Testwerte in einen größeren Rahmen einordnen und individuelle Entwicklungsziele - orientiert an den Normwerten vergleichbarer Personen - formulieren.
· Der Coachee hat die Möglichkeit, seine Stärken und Entwicklungspotenziale genau zu reflektieren und kann sich im relativen Vergleich zu anderen Personen einordnen, was gerade bei einer Standortbestimmung von großem Vorteil sein kann. Er kann seine bisherige Außenwirkung im relevanten sozialen Umfeld spiegeln und analysieren, um daraus Entwicklungspotenziale abzuleiten (Möller et al., 2013, S. 85–86).
Literaturverzeichnis
Borkenau, P., & Ostendof, F. (2008). NEO-Fünf-Faktoren-Inventar nach Cosat und McCrae. Hogrefe.
Möller, H., Kotte, S., Böning, U., & Kegel, C. (Hrsg.). (2013). Psychometrische Persönlichkeitsdiagnostik. In Diagnostik im Coaching (S. 81–99). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-37966-6
Ostendorf, F., & Angleitner, A. (2004). Neo-Persönlichkeitsinventar (revidierte Form, NEO-PI-R). Göttingen: Hogrefe.
Rammsayer, T. (2005). Humanistische Persönlichkeitstheorien. In H. Weber & Rammsayer (Hrsg.), Handbuch der Persönlichkeitspsychologie und differentiellen Psychologie (S. 61–70). Hogrefe.
Rauthmann, J. F. (2016). Grundlagen der Differentiellen und Persönlichkeitspsychologie: Eine Übersicht für Psychologie-Studierende. Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10840-3
Schirmer, U., & Woydt, S. (2023). Mitarbeiterführung. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-65650-1
Winkler, B., Dörr, S., & Klebl, U. (2017). Diagnose erfolgsrelevanter Kompetenzen und Motive von Führungskräften. In C. Von Au (Hrsg.), Auswahl und Onboarding von Führungspersönlichkeiten (S. 49–90). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-14883-6_3